Baumgesang

Mein liebstes Geräusch ist der Wind in den Fichten, dem zu lauschen ich in den letzten Monaten reichlich Gelegenheit hatte. Wie oft schlief ich in der Hängematte unter „meiner Fichte“ im Garten ein, geborgen unter ihrem starken Sein, gebunden in dem ewigen Kreislauf der Dinge, in dem alles unaufhaltsam in Bewegung ist. Die Überzeugungen und Bräuche in den germanischen Gesellschaften zeigen den tiefen Glauben an die Beseeltheit allen Seins – insbesondere der Bäume, zu denen unseren Ahnen eine ganz eigene Verbindung hatten. Wer heute spöttisch jemanden als „Baumstreichler“ tituliert hat meines Erachtens nach die Verbindung schon lang verloren, eventuell nie gehabt. Die Vorstellung, dass Bäume als vollendete Doppelgänger gleichwertig mit Menschen betrachtet wurden, hat sich in unterschiedlichen Formen entwickelt. Es gibt verschiedene Aspekte dieser Gleichsetzung, die in antiken Schöpfungsmythen und der Vorstellung von Bäumen als persönliche Wesen zu finden sind. Manchmal wurde sogar eine imaginäre Verschmelzung von Körper und Seele zwischen Mensch (oder Tier) und Pflanzen angenommen. Man glaubte, dass der Baum die Hülle einer Seele sein könnte, die sich durch den Tod vom menschlichen Körper gelöst hatte, oder dass Bäume von Elfen oder Schutzgeistern bewohnt werden könnten, die kaum von anderen Wesen zu unterscheiden sind. Es gibt auch Ideen, dass die Seele oder der Genius eines Baumes ein eigenes Leben neben dem Baum führt, in Stürmen, schlechtem Wetter, Wäldern und Feldern. Es kann vorkommen, dass du in der Darstellung des nordischen Baumglaubens auch einzelne Analogien aus entfernten Ländern und anderen Teilen der Welt findest. Ich stimme vollkommen mit den Worten von Theodor Mommsen überein, der in seiner römischen Geschichte bis zur Schlacht von Pydna (1861) betonte, dass man bei der historischen Kritik nicht den Hauptgrundsatz vergessen sollte: Jedes historische Phänomen sollte zunächst im Rahmen der Nation, zu der es gehört, geprüft und erklärt werden, und erst das Ergebnis dieser Forschung kann als Grundlage für internationale Vergleiche dienen.

Die germanische Welt hat die Verbindung zwischen Mensch und Pflanze in vielerlei Hinsicht erkundet. Bereits in alter Zeit war dieses Thema in unserer Poesie lebendig, auch ohne jegliche mythologische Verklärung. Es war und ist ein Miteinander, Füreinander, ein norwegischer Dichter, dessen Spruch später Odin in den Mund gelegt wurde, bringt es auf den Punkt:

Der Baum, der einsam im Dorf steht, welkt dahin, ohne Blätter und Rinde, die ihn einst genährt haben. Ebenso der Mann, dem keine Liebe entgegengebracht wird, welchen Sinn hat sein weiteres Dasein?

Diese poetische Analogie verdeutlicht die Verbundenheit von Mensch und Natur und betont die Bedeutung von Liebe und Gemeinschaft für das Wohlbefinden des Einzelnen, also auch der Sippe, der Gemeinschaft. Die Germanen glaubten, das „der Mensch ist wie ein Baum“ ist, Sein Sichtbares Antlitz wiederholt sich in den Wurzeln und in seinr Aura. Im Volksglauben der skandinavischen und deutschen Stämme finden wir dies, sowie bei ihren slawischen und finnischen Nachbarn verbunden mit der Vorstellung, dass Bäume geheimnisvolle und übernatürliche Eigenschaften besitzen, die den Menschen ähneln. In einigen Regionen behandeln die Menschen Bäume als Individuen mit eigenen einzigartigen Eigenschaften und sprechen sie auch dementsprechend an. Zum Beispiel schüttelte man in Westfalen Bäume und sagt: „Der Wirt ist tot“, um den Tod des Hausherrn anzuzeigen. In Mähren streicheln Bauern Obstbäume mit den klebrigen Händen, die sie für die Zubereitung des Weihnachtsteigs verwendet haben, und sagen: „Bäumchen, bring viele Früchte“. In der Silvesternacht tanzten Menschen um Obstbäume herum und riefen: Freue ju Böme
Nüjár is kömen!
Dit Jar ne Käre vull,
Up et Jär en Wagen vull!‘

Es gab einmal einen Wald in Schweden, zwischen Eslöv und Sallerup, den eine Riesin gepflanzt haben soll. In diesem Wald stand eine besondere Eiche namens Gyldeiche, die für ihre unheimlichen Vorfälle in vergangenen Zeiten bekannt war. Wenn Menschen vorbeikamen, grüßten sie den Baum respektvoll mit „Guten Morgen Gylde!“ oder „Guten Abend Gylde!“ Einen alten Brauch, ähnlich dem um die Gyldeiche, findet man im Tirol: Gehst du an einem Holunderbaum vorüber so grüße ihn, und als Zeichen des Respekts ziehe den Hut.

Holzarbeiter in der Oberpfalz sprechen von Bäumen, als wären sie Personen. Wenn der Wind durch die Baumkronen streicht, sagen sie, dass die Bäume „sich neigen und zu sprechen beginnen“ untereinander. Die Bäume „verstehen sich“. Der Baum „singt“, wenn der Wind durch seine Zweige rauscht. Es heißt, dass der Baum nicht gerne „sein Leben aufgibt“ und wenn er mit der Axt gefällt wird, „seufzt“ und „stöhnt“ er, wenn er zu Boden fällt. Es gab einmal einen Förster, der mit dem Herrn des Waldes darüber stritt, welcher von zwei wunderschönen Buchen vor ihnen gefällt werden sollte. Die beiden Bäume neigten sich seufzend hin und her. Der Herr fragte: „Wer hat geseufzt?“, aber es war niemand da, der antwortete. Voller Furcht gingen sie davon und verschonten diese prächtigen Bäume. Bis zum heutigen Tag bitten Holzfäller einen schönen und gesunden Baum um Verzeihung, bevor sie ihm „das Leben nehmen“.

Wie oft habe ich Bäume ächzen und seufzen gehört bevor sie der Motorsäge zum Opfer fielen, unheimlich die Stimmung, stocksteife Trauer. Auch die Fichte im Hofe ächzte und stöhnte als der Holzfäller ihr das Leben nahm. In der Vergangenheit glaubten die Menschen, es sei wichtig, um Erlaubnis zu bitten, bevor sie einen Holunderbaum fällten. Ich glaube, dass man dem jeweiligen Lebewesen sagen sollte, warum man seiner Kräfte bedarf. Früher sprach man ein Gebet, bat den Baum, etwas von seinem Holz zu geben und versprachen, etwas dafür zurückzugeben, wenn ihre eigenen Bäume im Wald wachsen würden. Dieser Glaube wurde auch in einer Aufzeichnung aus Dänemark im Jahr 1722 erwähnt. Ähnlich gibt es Erwähnungen des Bittens um Erlaubnis von der „Holundermutter- Hyllefroa“ und der „Eschenfrau – Askafroa“ in Ljunitshärad. Am Aschermittwochmorgen gossen die Menschen vor Sonnenaufgang Wasser über die Wurzeln des Eschenbaums und boten es Askafroa an, in dem Glauben, dass dies Glück bringe mit den Worten: „nu offrar jag, sá gör du oss ingen skada. (Nun opfere ich, tue uns keinen Schaden!)“

Man nahm an das Insekten, die in und um Bäume und Pflanzen herum leben, können Menschen und Tieren schaden. Diese Kreaturen wurden als böse Geister in Form von Würmern angesehen, eine Vorstellung, die nicht nur bei den Germanen verbreitet war. Man glaubte, dass diese Geister in Form von Schmetterlingen, Raupen, Regenwürmern, Kröten usw. in den menschlichen oder tierischen Körper eindringen und verschiedene Krankheiten wie Tuberkulose, Kopfschmerzen, Magenkrämpfe, Zahnschmerzen, insbesondere nagende, stechende und pochende Schmerzen, verursachen können. Der Glaube an diese Kreaturen basiert auf einem einfachen psychologischen Phänomen und kann heute noch beobachtet werden. Man glaubte, dass diese Geister, oft als „Elbe“ bezeichnet, aus dem wilden Wald kamen, um sowohl Menschen als auch Tieren zu schaden. Es wird angenommen, dass der Baum, der diese Geister in seiner Rinde beherbergt, sie entweder mit der Absicht aussendet, Schaden anzurichten, oder um sie loszuwerden, da sie in seinem eigenen Körper Unheil anrichten, aber niemals das Innere von Menschen angreifen. Es wird auch angenommen, dass der Baum oder Baumgeist diese krankheitsverursachenden geisterhaften Schädlinge (Elben usw.) wieder zurücknehmen kann. Bei Zahnschmerzen z. B. soll dieses helfen: einen Birnbaum rechts und umfassen und ihn mit den Worten anreden:

Birnbaum, ich klage dir,
Drei Würmer, die stechen mir,
Der eine ist grau,
Der andere ist blau,
Der dritte ist rot,
Ich wollte wünschen, sie wären alle drei todt‘.


Diese Zeremonie nennt man den Baum ‚anklagen‘. Auch andere Pflanzen standen im Verdacht, durch ihren Willen Würmer im tierischen Organismus festzuhalten. Der böhmische Aberglaube kennt folgenden Spruch, der beweist, dass nicht nur Bäume Träger des eigenen Übels werden sollten: Geh auf das Felde ein Distel zu suchen, einen Stein und eine Ackerkrume darauf zu legen und zu sagen:

‚Distelchen, Distelchen,
Ich lass‘ nicht eher dein Köpfchen los,
So lang du nicht frei läßt die Würmer der Kuh‘ (des Pferdes u. dgl
.)

Nun also erfolgte die Zurückberufung, auf das Gesundheit wieder hergestellte werden möge, Schaden abgewendet werde. Aus dem alten Rußland berichtet die Volkskunde das bei Auftreten von Seuchen folgendes Lied gesungen wurde, indem dabei mit einem Pflug um das Dorf zu Abwehr der bösen Geister eine abwehrende Furche zu ziehen war:

‚Vom Ocean, von der tiefen See
Sind zwölf Mädchen gekommen;
Sie nahmen ihren Weg – kein kleiner war’s –
Zu den steilen Höh’n, zu den Bergen empor
Zu den drei alten Holunderbäumen‘.

Macht fertig die weißen Eichentische,
Schärfet die Messer von Stahl,
Macht heiß die siedenden Kessel,
Spaltet, durchbohrt bis zum Tode
Jedes Leben unter dem Himmel‘

In diesen siedenden Kesseln
Brennt mit unauslöschlichem Feuer
Jedes Leben unter dem Himmel‘
Rund um die siedenden Kessel
Stehen die alten Holunder


Die alten Holunder singen,
Sie singen von Leben, sie singen von Tod,
Sie singen vom ganzen Menschengeschlecht.
Die alten Holunder verleihen
Der ganzen Welt langes Leben;


Doch dem andern, dem Übeln Tode,
Bestimmen die alten Holunder
Eine weite und große Reise.
Die alten Holunder versprechen
Ein beständiges Leben
Dem ganzen Geschlechte der Menschen‘
.

Ob die Frauen in den letzten Jahren auch gesungen haben? Die 12 Mädchen jedenfalls stehen für die Krankheiten, die Holunder geben im Liede ihre Zustimmung, die Menschen und / oder Tiere heimzusuchen, ihnen das Leben zu nehmen. Doch dann erfasst sie Mitleid, was sich in den letzten Versen äußert und den Holunder seine Heilkraft mit den Menschen teilen lässt.

Wenn das Besingen nicht helfen will, dann muss die Magie herhalten, allerlei Beschwörungsformeln haben die Chronisten niedergeschrieben, Ziel war immer das eigene Leid auf ein anderes Lebewesen zu übertragen. Eine von Räucherung geweihter Kräuter und Rosenblätter begleitete Beschwörung in Böhmen lautet:

Ich verwünsche euch Gliederweh,
Brandweh, Beinweh
In den tiefen Wald,
In die hohe Eiche,
In das stehende Holz
Und in das liegende.
Dort schlagt euch herum und stoßet
Und gebet dieser Person (Name) Ruhe‘

Ob das geholfen hat? Ein Placebo hilft ja auch, so kann die Vorstellung des Rücksendens durchaus Linderung, ja sogar Genesung bringen. Der Glaube versetzt Berge, heute wie damals. Die Bäume also sind wichtig für unsere Gesundheit, das wer sich an ihnen verging mit heftigen Strafen zu rechnen hatte. Denn Baumfrevel wurde bestraft, die Gebrüder Grimm haben etliche Textstellen dazu gesammelt. Hier ein Beispiel:

‚Item es soll niemand Bäume in der Mark schälen, wer das täte, dem soll man sein Nabel aus seinem
Bauch schneiden und ihn mit demselben an den Baum nageln und denselben Baumschäler um den
Baum führen, so lang bis sein Gedärm alle aus dem Bauch auf den Baum gewunden seien‘.
(Oberurseler Weistum.)

‚Wenn jemand eine Weide abschält, so soll man ihn mit seinem Gedärme den Schaden bedecken
lassen; kann er das verwinden, kann es der Baum auch verwinden‘. (Wendhager Bauernrecht.)


‚Wenn jemand einen fruchtbaren Baum abhauete und den Stamm verdeckte dieblicher Weise, dem soll seine rechte Hand auf den Rucken gebunden und sein Gemechte auf den Stammen genagelt werden und in die linke Hand eine Axe geben sich damit zu lösen. (Schaumburger altes Landrecht.)‘

Bei diesen Strafen wird man sich sicherlich überlegen ob man die Hand an einen Baum legen zu wagt. Ob solcherlei Strafe jemals verhängt wurde weiß man nicht, vielleicht konnte sich der Missetäter mit klingender Münze freikaufen, das hat ja schon immer funktioniert und tut es noch. Jedenfalls drängt sich mir angesichts der Rodungen überall dieser Gedanke auf.

Ich wünsche mir die Kinder würden wieder darinnen unterrichtet was lebt, beseelt und atmet, denn das brächte mit Sicherheit eine wirkliche Verbesserung für Baum und Pflanzen, Mensch und Tier. Ihr Bäume – ich grüße Euch.

Friede sei mit Euch
Landerun

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